Symbolismus: Geboren aus der Imagination

Symbolismus: Geboren aus der Imagination
Symbolismus: Geboren aus der Imagination
 
Nachdem die Aufklärung des 18. Jahrhunderts jeglichem Irrationalismus den Boden entzogen hatte, konnte im 19. Jahrhundert nur das als wahr und wirklich gelten, was mit Vernunft einsichtig erklärt werden konnte. Da nun zudem die Naturwissenschaften auf dem Weg waren, Phänome, die früher unbegreiflich erschienen, zu definieren und zu begründen, wurde allmählich ein berechenbarer Zusammenhang aller Teile im Weltganzen zur Gewissheit, und die optimistische Meinung verbreitete sich, in der denkbar vernünftigsten Welt zu leben. Verlierer dieser Überzeugung war in erster Linie die Religion.
 
Widerspruch gegen diese Haltung regte sich auch in der Kunst Europas schon in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, besonders jedoch an der Wende zum 19. Jahrhundert: Piranesi und Goya, Johann Heinrich Füssli und William Blake malten visionäre Bilder von hintergründiger, spukhafter Fantastik, und auch die Romantik suchte eine Wirklichkeit jenseits der Vernunft. Vertreten meist von Außenseitern der offiziellen Kunst, durchzogen solche Bestrebungen das gesamte 19. Jahrhundert und mündeten schließlich um 1900 in eine breite Strömung, für die sich der Name Symbolismus eingebürgert hat. Der Symbolismus war jedoch - wie auch der von ihm beeinflusste Surrealismus des 20. Jahrhunderts - kein Stil, sondern eine sich in bildender Kunst und Literatur manifestierende Weltanschauung, die sich verschiedener Stile bediente, um ihre Botschaft zu formulieren.
 
Der Symbolismus vermutete hinter der erfahrbaren Realität und den wissenschaftlichen Erkenntnissen eine andere, »endgültige« Wirklichkeit, die nicht erforscht und beschrieben, sondern nur subjektiv erfahren werden kann. Diese Wirklichkeit umschrieb er in der Kunst mit Leitmotiven und Leitbildern. Den Ausgangspunkt bildete fast immer ein identifizierbares Objekt, ein psychologisch nachvollziehbarer Akt, von dem aus der Betrachter ins Unbekannte geführt wird. Der Betrachter sollte ein Bild nicht rational verstehen, sondern sich subjektiv in das Bild einfühlen.
 
Die symbolistische Kunst bediente sich um die Jahrhundertwende, im Zeitalter der »Décadence«, überwiegend zweier Stile: einerseits des akademisch-realistischen Stils in der Art Arnold Böcklins, Franz von Stucks, Fernand Khnopffs, Gustave Moreaus und Odilon Redons, andererseits des Jugendstils, dessen deformative Gestaltung die Wirklichkeit bereits verfremdet wiedergibt. In beiden Stilarten wurden Ausdrucksmittel eingesetzt, die einen Gegenstand in eine hintergründige oder unbestimmte Sphäre übertragen. Eines dieser Verfahren definierte Max Deri 1920 als »naturalistische Permutation«: Realistische Gegenstände werden in ihrer äußeren Erscheinung nicht verändert, aber sie werden in Zusammenhänge gestellt, die in der Wirklichkeit nicht vorkommen.
 
Besonders mithilfe des pantomimischen und des mimischen Ausdrucks suchten die symbolistischen Künstler eine bestimmte Seelenlage zu vermitteln, die in andere Sphären des Erlebens überleitet. Die menschliche Gestalt wird dabei als Medium eingesetzt, das die Normalität verlässt und damit Hintergründe und Abgründe erschließt. Augen, Mund und Haare des Dargestellten nehmen - manchmal zur Maske erstarrt - Fetischcharakter an. Hatte noch der Realismus den Bildraum in seinen Abmessungen exakt definiert und den Menschen darin wirklichkeitsgetreu proportioniert, änderten die Symbolisten die Größenverhältnisse, um den Betrachter zu desorientieren, ihn nach dem im Bild verborgenen Sinn suchen zu lassen. Die bewusste Uneindeutigkeit der Darstellung sollte den Blick hinter die Dinge locken oder Ahnungen wecken. Licht und Farbe setzte man - oft unter Bezug auf Goethes Farbenlehre - ein, um besondere Stimmungen zu erzeugen.
 
Ihre doppelbödigen Vorstellungen artikulierten die Symbolisten etwa in Selbstbildnissen, in denen mehr als nur die äußere Erscheinung des Porträtierten steckt. In ihnen konfrontierten die Künstler sich mit dem Tod oder mit der Welt der Schatten, reflektierten über das Leben, die Vergänglichkeit, den Kampf zwischen den Geschlechtern und ihr Ausgegrenztsein aus der Gesellschaft, aber auch immer wieder über die alten Wertbegriffe der Religion. So setzten sich manche Künstler mit christlichen Bildinhalten auseinander. Andere wandten sich esoterischen religiösen Utopien zu, etwa der 1888 von Joséphin Péladan in Paris gegründeten Bruderschaft der »Rosenkreuzer«, die auch ein Forum für Ausstellungen bot. Wieder andere vollzogen die radikale Umkehr in den Atheismus oder in einen Satanskult. Einige flohen in eine konflikt- und geschichtslose Wunschwelt, die sie in irdischen Paradiesen, in ländlichen Künstlerkolonien oder - wie Paul Gauguin - unter den Ureinwohnern in der Tropenwelt zu finden hofften.
 
Erfahrungen, die man außerhalb der gültigen moralischen Normen machen konnte, spiegeln sich bei den Symbolisten besonders in der künstlerischen Beschäftigung mit Liebe und Sexualität, thematisiert vor allem im Bild der Frau. Sie erscheint als »Femme fragile« und als »Femme fatale«, als anbetungswürdig madonnenhaft und als verdammenswert, lasterhaft und männermordend, als Eva oder als Salome. Das Liebeserlebnis führt nach Ansicht der Symbolisten zum Untergang und nicht - wie ursprünglich erhofft - zur Befreiung. So suchten sie diese im Traum, in der meditativen Versenkung und letztlich im Tod, der darüber Aufschluss geben sollte, ob und in welcher Form eine andere Wirklichkeit existiert.
 
Prof. Dr. Hans H. Hofstätter
 
 
Hofmann, Werner: Das irdische Paradies. Motive und Ideen des 19. Jahrhunderts. München 31991.
 Hofstätter, Hans H.: Symbolismus und die Kunst der Jahrhundertwende. Voraussetzungen, Erscheinungsformen, Bedeutungen. Köln 41978.

Universal-Lexikon. 2012.

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